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Utopische Visionen und Visionäre Kunst: Beethoven

Dies ist ein ungewöhnliches Unternehmen. Das Ziel ist polyphon. Themen werden zusammengeführt, die oft getrennt behandelt werden. Musikalische Aufführungspraxis scheint heutzutage oft zu distanziert von der Musikwissenschaft, die sich weiterhin in Teilgebiete wie Geschichte und Theorie, Quellen- und analytische Studien trennt. Museum-Studies und Kulturgeschichte sind weitere unerlässliche Disziplinen.

This is an unusual collaborative undertaking, blending theory and practice. A goal is to draw together themes that are often kept apart. The realm of musical performance too often seems distanced from scholarship, and the sphere of research in turn subdivided into history and theory, source studies and analytic endeavors. Another area of activity is that of museums and collections, historical artifacts. Yet another indispensable dimension is the larger realm of cultural history.

»„Ich Bin, Was da ist“
„Ich bin alles, Was ist, Was
War, und Was seyn wird,
Kein sterblicher Mensch
Hat meinen Schleyer
Aufgehoben.“
Diese rätselhaften Zeilen finden sich in schwungvoll ornamentaler, jedoch schwer lesbarer Schrift auf einem Notizblatt Ludwig van Beethovens. Sie wirken wie ein Orakel aus ferner Zeit, vielleicht der griechischen Antike. Und sind doch Beethovens geistiger Welt, fast möchte man sagen, entsprungen. Dieser Welt versuchte man – das sind der amerikanische Musikwissenschafter und Herausgeber William Kindermann und seine wissenschaftlichen Co-Autoren – sich zu nähern und zu ergründen. Dazu organisierte er im März 2017 einen internationalen Kongress als Vorbereitung zur Neugründung des Beethoven-Museums am 22. November im 19. Wiener Gemeindebezirk, Probusgasse 6, dem sogenannten Testamenthaus in Heiligenstadt, in welchem der Komponist 1802 – angeblich – das berühmte Heiligenstädter Testament verfasst hat. Neuere Forschungen haben allerdings ergeben, dass das BeethovenHaus so erst 1807 nach einem Großbrand erbaut wurde und dass Beethoven während seines Kuraufenthaltes 1802 möglicherweise in einem ganz anderen Haus, vielleicht dem Beethovenhaus am Pfarrplatz 2 (?), logiert haben könnte. Wirklich zu Hause war er offenbar nur in seiner geistigen Welt. Diese geistige Welt reicht vom musikalischen, menschlichen, politischen, sozialen, philosophischen Hintergrund bis in kosmische Dimensionen. Diese in einer Ausstellung materieller Erinnerungsstücke zu erfassen und zum Klingen zu bringen, das war die Herausforderung, der sich das Team um Kindermann gestellt hat. Es ist das, was die Ausstellungskuratorin Lisa Noggler in ihrem verschriftlichten Kongressbeitrag als „unausstellbar“ bezeichnet hat. Und dennoch will man ein Verständnis für biographische Details, für Beethovens Arbeitsweise unter den bekannten erschwerten Bedingungen hinsichtlich seiner Gesundheit, insbesondere seines Gehörleidens, für seine Selbsteinschätzung und für seine Weltsicht vermitteln, und das alles in dem intimen Rahmen des kleinen Beethovenhauses in Heiligenstadt. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse von verschiedener Seite sollten die geistige Grundlage für eine Erinnerungsstätte schaffen mit dem Anspruch auf eine Nachhaltigkeit, die sich bis in utopische Gefilde erstreckt, wie schon der anspruchsvolle Buchtitel verspricht.
Der Herausgeber gibt als Zielsetzung an, die fachliche Distanz zwischen musikalischer Aufführungspraxis und Musikwissenschaft überwinden zu wollen und Teilgebiete wie Geschichte und Kulturgeschichte, Quellenstudien und Werkanalysen sowie Ausstellungsformen und Museumspraxis miteinzubeziehen und sozusagen polyphon wahrzunehmen. Als keynoteVeranstaltung bildet ein Dialog zwischen Kindermann und Sir John Eliot Gardiner den Auftakt dazu. Gardiner vergleicht das Musikschaffen Beethovens mit einem – akustischen – Gemälde. Etwa so wie der spanische Maler und Zeitgenosse Beethovens, Francisco Goya (1746-1828), politische Ereignisse, soziale Zusammenhänge und philosophische Weltsicht in seine Bildkompositionen integriert hat, so spiegeln sich diese Komponenten auch in Beethovens Musik wider. Und wie sich ein Maler vor der Arbeit an einem großen Gemälde zahlreiche Detailskizzen anfertigt, gibt es auch von Beethoven unzählige Notenblätter mit Motiven und Entwürfen sowie schriftlichen Notizen, die sein Schaffen begleitet haben oder ihm vorangegangen sind. Das allegorisch idealisierte Portrait des Malers Joseph Willibrord Mähler (1778-1860), das etwa 1804/05 entstand und die Sammlung des Beethoven-Museums vervollständigt, verweist auf diese geistige Zusammenschau des Menschen Beethoven: sitzend, auf seinem Schoß das Instrument des Orpheus, die Leier, als Symbol für seine Musikalität; der für ihn höchst ungewöhnliche „Titus“-Haarschnitt, der zur Zeit der Französischen Revolution en vogue war; die Eiche in seinem Rücken steht für seine Naturliebe, und die rechte Hand mit den überlangen Fingern, die ihn möglicherweise als Klaviervirtuosen ausweisen soll, dabei aber mit dem Arm eine kleine Baumreihe und eine Tempelgruppe im Hintergrund verdeckt und zugleich ins Licht zeigt; das umreißt – möglicherweise – eine universelle geistige Spannweite des Komponisten von der Antike bis in utopische und kosmische Sphären.
Hans-Joachim Hinrichsen, Professor an der Universität Zürich, zeigt das moralische Selbstverständnis Beethovens auf der Grundlage der Philosophie Kants, die er sich nicht durch akademische Studien zu eigen gemacht hat, sondern vor allem über die Dichtung Friedrich Schillers und auch Goethes dorthin gelangt ist. Der deutsche Literat und Goethekenner Manfred Osten verweist die Schilderung Bettina von Arnims über die Begegnung von Beethoven und Goethe in gegenseitigem Unverständnis ins Reich der Fabel. Vielmehr hätte Goethe bereits erkannt und gegenüber seinem Freund Zelter geäußert, wie wenig das versagende Gehör die schöpferische Sphäre des Musikers zu beeinträchtigen vermochte. Der texanische Professor Robert S. Hatten von der University Austin greift die Themen, die Beethoven unter den Nägeln brannten, sowie ihre musikalische Umsetzung akribisch genau auf. Julia Ronge, Forscherin am Beethoveninstitut in Bonn, stellt Joseph Haydn und Johann Georg Albrechtsberger in ihrer Vorbildwirkung auf den jungen Beethoven dar. Der kanadische Musikwissenschafter und Universitätsprofessor Friedemann Sallis analysiert am Beispiel der Klaviersonate Der Sturm (op. 31/2) die Entwicklung von der variablen Anwendung formaler Kategorien der Musiktheorie bis zum kompositorischen Ausdruck der Musiksprache. Oder wie es Beethoven selbst gesagt hat: „Von oben muss es kommen; sonst sind da nur Noten“.
Es ist nachgewiesen, dass sich Beethovens Einfluss-Sphäre über Wagner, Mahler bis zu Schönberg erstreckt hat. Zu seiner Zeit hat Beethoven nicht nur zeitgenössisch komponiert, sondern darüber hinaus. Wie später bei Schönberg hat man vielfach auch bei ihm die Unverständlichkeit seiner Musik kritisiert. Der amerikanische Musikforscher Mark Evans Bonds weist auf den Zusammenhang vom philosophischen Verständnis dieses Begriffs durch Friedrich Schlegel und der Musik Beethovens hin, wenn er Ersteren zitiert: „Das Universum ist im Grunde chaotisch und unverständlich, und nur durch das Unverständnis können wir uns seinem innersten Wesen nähern. Der Musikwissenschafter Helmut Loos, Emeritus der Universität Leipzig, setzt sich mit der postfaktischen Musikgeschichtsschreibung und der Legendenbildung um Beethoven auseinander. Und Susanne Zapke, Professorin und Vizedirektorin der Musikuniversität Wien, befasst sich mit Beethovens Haltung zu den Unterdrückten, insbesondere im Zusammenhang mit der Ode an die Freude. Lisa Nogger und William Kindermann beschließen diese Kongressergebnisse mit ihren Berichten über die praktische Konzeption des Museums mit der Intention, eine kritische Sicht anzubieten, die der verlässlichsten und neuesten Forschung verpflichtet ist. Die Beiträge sind teils in deutscher, teils in englischer Sprache oder zweisprachig abgefasst und durch bibliographische Angaben und Hinweise ergänzt. Sie können sowohl beim Fachmann als auch beim unvoreingenommenen Besucher dieses kleinen und feinen Museums einen wertvollen Beitrag zu einem vertieften Verständnis des Beethoven’schen Geistes beitragen.«
Ursula Szynkariuk / Der Neue Merker

205 Seiten, 26 Farb- und 15 S/W-Abbildungen
ISBN 978-3-85450-117-6

 38,60

Product ID: 575 Kategorie:
Autor

William Kinderman

Verlag

Verlag Der Apfel

Seiten

205

ISBN

978-3-85450-117-6

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